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Von Denis Kolokol.

Unter einem Mikroskop Töne sezieren

Die experimentelle Musikszene in der Ukraine

Die Entwicklung der unabhängigen Musikszene in der Ukraine hängt seit jeher vom Enthusiasmus einzelner Personen ab. Das Land war nie daran interessiert, sein Geld in experimentelle Kultur zu investieren; im Kontext offizieller „ukrainischer Kultur“ existierte sie so gut wie gar nicht. Auch wenn ausländische Kulturfonds ab und zu Einzelveranstaltungen finanzieren, spielen sich jene mehr oder weniger im „Kreise von Eingeweihten“ ab.

Die Ukraine verfügt über eine schwach ausgeprägte Mittelschicht, was die Kaufkraft der Bevölkerung im Ganzen sehr schmälert. Auch fehlt ein Distributionssystem für Musik, obschon einzelne Vertreiber ab und zu „Risiko“-CDs promoten und verkaufen. Nicht zu vergessen die Musikpiraterie, die, wenn überhaupt, dann weniger auf heimische experimentelle Musik konzentriert ist, sondern sich in diesem Bereich an großen internationalen Top-Labels wie „Ninja Tune“, „Warp“ oder „Mute“ orientiert. Außerdem fehlt in der Ukraine nach wie vor eine unabhängige freie Presse: Monatsmagazine, Fernsehen und das Radio widmen der experimentellen Musikszene so gut wie keinen Raum. Selbst das – in der Ukraine besonders lebendige und viel genutzte – Internet schenkt der Kultur wenig Aufmerksamkeit, vielleicht auch deswegen, weil letztlich zu wenig passiert. Das Interesse der Bevölkerung ist sogar an kommerzieller U-Musik sehr gering. Es gibt keinen einzigen Musiker vor Ort, der vom Verkauf seiner Platten leben könnte. Dmytro Fedorenko, einen der Protagonisten der ukrainischen experimentellen Szene, wundert das nicht: „Wenn es in der Ukraine keine Popmusiker gibt, denen das Publikum besonderes Interesse schenkt, wie kann sich dann eine Undergroundszene normal entwickeln?“
Dennoch: In den vergangenen Jahren fanden sowohl in Kiew als auch in Charkow, Odessa oder Dnjepropetrowsk regelmäßig Avantgarde-Events statt, nicht zuletzt dank „Nexsound“, dem wichtigsten Label für elektronische Musik in der Ukraine. Dadurch entwickelte sich mit der Zeit eine völlig neue Schicht von Musikkonsumenten und mit ihnen eine neue „Kultur des Zuhörens“. „Zuhören“ ist bis heute ein Fremdwort in fast allen anderen postsowjetischen Ländern, außer wohl mit einer einzigen Ausnahme: dem Baltikum, wo elitäre Kunst immer schon existierte. Dem Großteil der jungen Leute, so habe ich festgestellt, kommt es gar nicht erst in den Sinn, dass man in einen Klub nicht nur zum Tanzen gehen kann, sondern auch zum Musikhören. Aber in der Ukraine ist das inzwischen anders, es gibt mittlerweile ein Publikum, das seine Ohren benutzt. Sehr zahlreich ist es nicht, aber es hat immerhin seinen ersten musikalischen „Kulturschock“ überwunden.
Die Wurzeln der zeitgenössischen Musik in der Ukraine liegen in unserer großen Musiktradition. Diese befasst sich viel mit der Stimme und dem Erzählen. Diese Eigenschaften sind auch der Gegenwartsmusik eigen. In den traditionellen Liedern widmet man sich vor allem Gedanken und Problemen des Alltags. In der ukrainischen Kulturgeschichte – ähnlich wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern – existierte in diesem Sinne nie eine Belustigungs- und Unterhaltungsmusik. Die Musik diente vielmehr als Medium, um das Erlebte und das Gesehene wiederzugeben und zu verarbeiten.
Das rituelle Moment der traditionellen Musik, das den Zuhörer vereinnahmt und ihn in einen Teilnehmer am Erzählten und am Ritual verwandelt, finde ich, ist auch in der experimentellen Musik der Gegenwart zu entdecken. Die Künstler halten nicht einfach ihre Gitarren in den Händen, stehen nicht nur vor ihren Noise-Generatoren oder Laptops, sondern arbeiten konzeptionell und betonen das erzählerische Moment in ihrer Musik. Und sie haben etwas zu erzählen. Es ist ungemein interessant, ihnen dabei zuzuhören, denn sie machen ihre Sache sehr ernsthaft; man merkt, da hat sich einer nachhaltig mit etwas auseinander gesetzt.

Unterschiede zwischen der Szene in Russland und der Ukraine

Vieles, was man als „russische Szene“ bezeichnen kann, ist mit dem Punk assoziiert. In der russischen Musiktradition herrschen für mich der Übermut und der Aufruhr vor. Ob es nun das Moskauer Festival „Noise and Fury“, das Jaroslaw-Label „Spirals of Evolution“ oder die Moskauer Band F.R.U.I.T.S. ist (die als Vorreiter des russischen Underground gilt), alles hat in der russischen Szene einen unübersehbaren Hang zum Grenzenlosen, zum Aktionistischen, aber auch zum Aggressiven.
Die ukrainische Szene entwickelte sich ursprünglich eher isoliert von Russland und anderen Ländern. Ihre Produktionen verzeichnen einen deutlichen Anteil an Eskapismus, sie sind konzentrierter, konzeptueller, introvertierter, mehr auf die innere Organik der Musik lauschend. Schon die ukrainische Folklore ist nicht so schwungvoll und ausholend, wie es die russische ist, sie ist weniger dröhnend, würde ich sagen. Es sind in der Ukraine viel mehr alltägliche Liebesballaden überliefert als große, feierliche Lieder. In einigen Regionen des Landes kannte man wie gesagt Unterhaltungslieder nicht; für die Bewohner existierten nur so genannte „private Lieder“, mit denen die Menschen ihre persönlichen Sorgen und Erfahrungen zum Ausdruck brachten. Nichtsdestotrotz: In der ukrainischen Szene gibt es freilich auch „punk-eske“ Projekte wie „Actually Alone“, „Zsuf“ und andere, die vor allem mit dem heimischen Label „Quasi Pop“ zusammenarbeiten. Dennoch wird in der Ukraine eine scharfe Grenze zwischen dem „Underground“ (Punk) und der „Avantgarde“ (experimentelle Musik) gezogen.

Das ukrainische Label „Nexsound“

Nur Menschen, die ernsthaft musikalisch „kontaminiert“ sind und einen guten Geschmack haben, so meine Meinung, können die schwierige Situation der Avantgarde-Musik in der Ukraine verändern. Genau so eine Mannschaft hat sich um das unabhängige Charkower Avant-Label „Nexsound“ versammelt, das zur einen Hälfte im Internet veröffentlicht, zur anderen auf harten Trägern. An seinem Ruder steht Andrey Kiritchenko.
Kiritchenko fing 1996 mit der Radiosendung „Vilna zona“ (Freie Zone) an, die Techno zum Thema hatte. Ein Jahr später startete er die gleichnamige Sendung im regionalen TV und legte als DJ im Charkower Klub „Deep“ auf. Im Jahr 2000 gründete er dann das Label „Nexsound“, unter dem er nicht nur seine eigenen, sondern auch die Arbeiten seiner Charkover Freunde veröffentlichte. Mit der Zeit gewann das Label Anerkennung, vor allem im Westen. Das führte zu zahlreichen Kollaborationen: Man kooperierte etwa mit mehr oder weniger bekannten Musikern wie Francisco Lopez, Kim Gaskone, Jonas Lindgren oder Franz Pomassl sowie mit den heimischen Gruppen „Kotra“ und „The Moglass“. Unter den Labels „Ad Noiseam“, „Zeromoon“, „Spekk“ und den Online-Labels „Autoplate“, „-N“, „Fukk God“ sowie „Let’s Create“ wurden mehr als 20 Alben publiziert, auf denen Andrey Kiritchenko mitwirkte.
Jedes neue musikalische Produkt des Labelchefs Kiritchenko ist einzigartig. Seine Aktivitäten erstrecken sich von Techno über elektroakustische Improvisationen bis zur Musique concrète, von Ambient bis zum mikrotonalen Noise. Kiritchenko ist einer der eklektischsten Musiker der experimentellen Gegenwartsszene, eine Art Multi-Instrumentalist. Er arbeitet mit dem Modular-Synthesizer „NI Reaktor“, verwendet akustische Instrumente, die er in einen Dialog mit Elektronik und bereits vorhandenen Aufnahmen treten lässt. Für seine Tracks und auch bei Liveaufnahmen kommen weniger der Laptop als Gitarre, Lira, Klavier, Zimbel und speziell bearbeitete Kinder-Bandura zum Einsatz; dazu verwendet er MD-Player, Kontaktmikrofone, diverse Gegenstände mit verlängertem Feedback und Alesis Air FX mit Infrarot-Controllern. Seine Musik kann man guten Gewissens als „Sound-Art“ bezeichnen. Kiritchenko behauptet, dass vieles von dem, was man von ihm hört, „das Ergebnis bewusst oder aus Versehen falsch eingesetzter Soundquellen“ ist.

Die Gruppe „The Moglass“


Kiritchenko hat in Charkow einen guten Freund: Yuri Kulishenko, der unter dem Namen Paul Cust auftritt. Er ist Gitarrist und ideologischer Kopf der Charkover Improvisationsband „The Moglass“. Vladimir Bovtenko spielt Bass, der Dritte ist Oleg Kovalchuk, ein gelernter Biologe, der an alten sowjetischen Synthesizern herumbastelt und aus elektronischem Schrott neue Musikinstrumente entwickelt (solo ist Kovalchuk mit seinem „Lo-fi Ambient“-Projekt „Ok_01“ unterwegs).
Die Band „The Moglass“ existiert seit 1993. Seither kamen annähernd zehn Alben heraus, zum Teil auf dem Neuseeländer Label „Pseudo Arcana“. 2004 veröffentlichte „Nexsound“ ein Split-Release von „The Moglass“ und dem „Tom Carter Duo“ (Charalambides) mit Vanessa Arn (psychedelische Folk-Gruppierung „Primordial Undermind“). Mitte 2005 nahm „The Moglass“ an der Tournee der Kultgruppe „Jackie-O Motherfucker“ teil.
„The Moglass“ arbeitet im Stil des psychedelischen Post-Rocks und verwendet dabei Elektronik. In einem Interview bezeichnete die Gruppe ihren Stil als „Personal Folk“. Diese Musik ist „vorsichtig“, nicht zu schnell und nicht zu laut, eine Art introvertierter Improvisation. Es gibt viel Echo, eine Menge großer, leerer Räume, Schreie, Ausschnitte von Hörstücken und viel Gitarrenheulen. Die Musiker von „The Moglass“ haben für sich den Begriff der „Psychogeografie“ geprägt: Der menschliche psychologische Zustand, so die Idee, wird durch seine Bewegung im Raum geprägt. Durch zielloses Spazierengehen, Flanieren im Raum, ob real oder musikalisch, erreicht man einen Zustand idealer Selbstbeobachtung.

Das Projekt „Kotra“

Das radikale Noise-Projekt „Kotra“, hinter dem sich der Kiewer Musiker Dmytro Fedorenko verbirgt, ist eine der lautesten, aufdringlichsten und selbstsichersten kreativen Einheiten der ukrainischen Noise-Szene. Dmytro Fedorenko und Andrey Kiritchenko haben auf vielen – wenn nicht fast allen – Festivals für experimentelle Musik in Europa gespielt. Zurzeit arbeitet Dmytro für das Label „Nexsound“ und organisiert Events in Kiew.
Die Musik von „Kotra“ beziehungsweise von Dmytro Fedorenko ist „hundertprozentig experimentell“ und das Ergebnis einer im Grunde ständigen Überbelastung des Ausgangssignals. Ein Mastering der Tracks würde ihren Esprit zunichte machen, denn ihre Qualität liegt ja gerade in der digitalen Entstellung und Verzerrung. Man kann, so denke ich, die Alben von „Kotra“ nicht von vorne bis hinten anhören; nicht nur, weil sie nicht sehr wohlklingend sind, sondern auch, weil jeder Sound für einen bestimmten Raum gestaltet ist. Man hat bei Dmytro Fedorenkos Musik den Eindruck, sie würde unter einem Mikroskop ihre Töne sezieren.

Der Nachwuchsstar Zavoloka

Kateryna Zavoloka hat in den vergangenen Jahren eine Blitzkarriere ohnegleichen hingelegt. Das Label „Nexsound“ veröffentlichte 2003 ihr erstes MP3-Release „Suspenzia“, das im Internet mit am häufigsten runtergeladen wurde. Ende 2003 kam die CD-R „I“ auf dem Noise-Label „Zeromoon“ heraus. Nach dem legendären Auftritt im „Palast der Republik“ in Berlin im September 2004 erschien Anfang 2005 die CD „Plavyna“ beim österreichischen Label „Laton“ und „Nexsound“; es folgte ein Auftritt beim Avantgarde-Festival „club transmediale“ in Berlin, bei „Unsound“ (Warschau), „Garage“ (Stralsund), „Femmes“ (Hasselt) usw. Obwohl sie mit Gruppen wie „FM“ und „Granular Synthesis“ arbeitet, findet sie die traditionelle ukrainische Kultur nach wie vor sehr inspirierend. Sie reist gerne in entfernte ukrainische Dörfer, um nach Menschen mit „Stimme“ zu suchen. Für ihre Tracks verwendet sie dann die Aufnahmen ihrer „kulturethnologischen Expeditionen“ und erreicht damit ein erstaunliches Zusammenspiel von Vokalem und Elektronik.



Übersetzung aus dem Russischen: Anna Michailova

Der Autor Denis Kolokol, geboren 1978 in Zaporozhye in der Ukraine, arbeitet und lebt als Gelegenheits-Journalist und Musikfan in Almaty (Kasachstan). Seinen Lebensunterhalt verdient er als Software-Konsulent. Sein Interesse gilt dem Bereich „Online-Labels“. Kolokol ist außerdem Mitglied der Künstlergruppe [antiparty gang] in Almaty, in deren Rahmen er Events organisiert, Aktionen, Musikperformances und „kreatives DJing“ betreibt (u. a. das Festival „SoundVision“ in Almaty 2005).


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Dezember 2005
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